Von Co-rona Living zu Co-living

Es waren einmal drei Groß­mütter. Doreen, Dotty und Carol (Sie könnten es nicht erfinden, auch wenn Sie es versuchen würden). Sie alle lebten glücklich in ihren eigenen Wohnungen, bis ihnen eines Tages gesagt wurde, sie müssten sich selbst isolieren. Alle waren in ihren 70ern und seit mindestens 40 Jahren befreundet. Und so beschlossen sie, dass, dass es viel mehr Spaß machen würde, sich zusammen zu isolieren. Zuerst einigten sie sich darauf, eine Woche alleine zu warten um heraus­zufinden, ob sie den Virus nicht hatten. Dann zogen sie zusammen. Es war eine Form der hochsozialen Ko-Isolation, um die Einsamkeit zu bekämpfen.

Sie mussten sich auch darauf einigen, in welches Haus sie einziehen wollten – das Haus, das die privatesten Räume, aber auch Platz zum gemeinsamen Trainieren und Essen bot – und stellten sicher, dass sie Netflix und ziemlich viel Wein hatten.

Was werden diese Damen also tun, nachdem sich das Virus aufgelöst hat? Werden sie ihre Ressourcen bündeln und sich in einem größeren Haus niederlassen? Werden sie jemals wieder glücklich zusammenleben? Das Seltsame ist, dass der Individualismus-Trend, wenn man ihn mit den Augen und der Erfahrung sozialer Isolation betrachtet, wie ein vergeblicher Genuss erscheint. David Brooks schreibt in der New York Times, dass das große Paradox der Coronakrise darin besteht, dass wir getrennt werden mussten, um uns zusammen zu fühlen. Es ist so, erinnert er uns, als wenn wir Fasten, und dabei das Essen wieder schön wird. Plötzlich hat jeder menschliche Verbindungen im Kopf. Aber wird es dauern? Werden wir uns „nach der Krise“ umso mehr vereinzeln?

Wenn wir optimistisch sein wollen, könnten wir sagen, dass soziale Solidarität hartnäckig ist. Dass wir gelernt haben, wie sehr wir ein aktives Engagement für das Gemeinwohl brauchen, das über die Folgen des Virus hinausgeht – nicht nur privat, sondern auch in unserem öffentlichen Leben. Wir werden vielleicht feststellen, dass das Co-living-Zusammenleben mehr zu bieten hat als Skaleneffekte, mehr zu bieten als gemeinsame Terrassen und Küchen, auf denen Sie leichter mit Ihrem Nachbarn flirten können. Wir werden das Potenzial dieses Zusammenlebens durch die Linse derer sehen, die viele Wochen oder sogar Monate allein verbracht haben. Wir werden einen Eindruck davon bekommen, dass die Vorteile einer gemeinsam gekochten und geteilten Mahlzeit lange nach dem Abwasch bestehen bleibt.

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Post-Corona Hygge

Hygge, der neueste Sofastil, die Farbe des Jahres, neue Kissen­kollektionen. Es gibt etwas an diesen Heimtrends, das sich plötzlich fast dekadent und unanständig anfühlt. Man könnte sagen, sie waren immer nur „Lösungen der ersten Welt für Probleme der ersten Welt“. Doch wie wir unsere Häuser formen, feiern, dekorieren und einrichten, ist plötzlich paradoxerweise wichtiger denn je. Wir brauchen ein Zuhause, um uns daran zu erinnern, wer wir sind und was wichtig ist.

Versuchen wir also uns in einem Jahr in unseren Häusern vorzustellen. Klingt komisch, aber wenn wir verstehen wollen, wie diese Krise unser Leben verändert, können wir die RE-gnose verwenden. Das heißt, wir schauen nicht von jetzt in die Zukunft (wie bei der PROgnose), sondern von der Zukunft zurück ins heute. Das ist nicht so verrückt, wie es sich anhört. Stellen Sie sich vor, wir haben durch die Krise gefunden – wie wirken die Dinge, die uns umgeben, auf uns? Das abgenutzte Marie Kondo-Buch steht wieder im Regal, und wir freuen uns, dass unsere Wohnungen aufgeräumter, organisierter und komfortabler, praktischer und funktionaler sind. Wir haben sogar gelernt, Dinge selbst zu reparieren, Regale aufzustellen, die Wände zu streichen, und es gibt einen Haufen Dinge, die bereit stehen, in den Second-Hand-Wohltätigkeitsladen zu wandern.

Der Küchentisch mit seinen Flecken und Kratzern sieht nicht mehr schmutzig und gebraucht aus, sondern erzählt die Geschichte eines intensiven Lebens mit Familie und Freunden. Der Keller sieht nicht mehr wie das Set einer Krimiserie aus, und wir haben den Koffer der Großmutter vom Dachboden umfunktioniert. Wir können uns immer noch an das warme Gefühl erinnern, als wir anfingen, die Kontrolle über unseren privaten Raum zu übernehmen. Wir hatten das Gefühl, ein wenig Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen, während im Außen alles durcheinanderkam.

Wir werden uns in dieser Zukunft vielleicht fragen, warum wir einmal nach Hause gekommen sind und alles für selbstverständlich gehalten haben, warum wir unser Zuhause so vernachlässigt haben, warum wir die subtilen Linien der Beine des Esstisches, die weiche Krümmung der Armlehnen des Sofas nie wirklich bemerkt oder geschätzt haben. Wir werden uns fragen, warum wir unsere Häuser wie eine dieser Tanten behandelt haben, die wir „eigentlich“ immer mal treffen wollten, aber nie angerufen haben.

Versuchen wir also ein wenig Backcasting. Das ist eine Form der Re-gnose, bei der Sie, wenn Sie ein bestimmtes Ziel erreichen möchten, die Maßnahmen betrachten, die ergriffen werden müssen, um dorthin zu gelangen. Rufen wir sozusagen die Tante an. Definieren wir eine wünschenswerte Zukunft – und arbeiten wir rückwärts, um herauszufinden, wie wir dorthin gelangen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Wenn wir uns in Zukunft in unseren Häusern sehen, erlauben wir uns, unsere Habseligkeiten kritischer zu betrachten – von wem sie gemacht wurden, woher sie kamen und was sie für uns bedeuten. Bringen sie uns Freude (ja oder nein?) Und Trost? Spiegeln die geschätzten 10.000 Dinge, die jeder von uns besitzt, unsere Überzeugungen und tatsächlichen Bedürfnisse wieder? Stellen wir uns „Heldenmaterialien“ wie Cradle-to-Cradle oder sogar veganes Design vor? Investieren wir nicht nur aus Gründen des Designs, sondern auch für eine langfristige Beziehung zum Objekt und den Idealen und Ideen dahinter in Design? Wir sehen, es geht nicht nur darum, was in Ihrem Haus passiert, sondern auch darum, wie Sie wirklich fühlen und denken.

Sätze wie „Zuhause ist der Ort, an dem unsere Seele das Gefühl hat, einen geeigneten physischen Behälter gefunden zu haben“ können nicht mehr nur als coole Aussagen abgetan werden, sondern treffen den Kern unserer neuen Realität. Gleiches gilt für den viel verspotteten und diskutierten Achtsamkeitstrend. Das Mantra „auf das achten, worauf Sie achten“ erhält plötzlich eine neue Bedeutung, Wichtigkeit und Dringlichkeit. Solche kulturellen Veränderungen und Konzepte werden nicht mehr nur als kurzfristige Lösungen angesehen und als Spielzeug für die Privilegierten abgetan. Es geht darum, sich einer neuen Realität zu stellen, wo zu Hause ist, wie wir es gestalten und mit wem wir wirklich leben wollen.

Es wurde gesagt, dass das größte Heimweh die Menschen haben, die kein Zuhause besitzen. Wir waren eine Welt der Nomaden geworden, die flexible, mobile Lebensstile förderten und feierten. In der Zukunft geht es darum, unser Heimatgefühl zurückzugewinnen. Um das Verstehen, dass es im Zuhause „um das Vertraute, die Schwerkraft, das Zurückfallen ins Selbst nach der Zerstreuung und Überdehnung in der Welt“ geht (Andrew Bush, Bonnettstown, 1989).
Oder einfach gesagt, Hygge ist tot, es lebe Hygge!


www.strathern.eu

Die Coronagleichung

Ich möchte über ein unangenehmes Thema sprechen: die Generationsgleichung, die durch Corona entstanden ist. Ganz plakativ gesagt: die “Jungen” verhalten sich (großteils) vorbildlich zum Schutze der “Alten”. Die Solidarität von Millennials & Gen Z gegenüber unseren Risikogruppen (Babyboomer+) ist so hoch wie noch nie. Die ganze WELT steht still, um EUCH zu schützen. Denn WIR mögen euch ja (meistens), ihr seid schließlich unsere Eltern, Omas, Opas, Onkel, Tanten, Nachbarn. 

Nur ist die Gleichung jetzt ungelöst. 

Noch bevor es Covid-19 gab, haben die Under 30s, die laut Babyboomer noch gar nicht wissen können, wie die Welt eigentlich funktioniert, eine wesentlich fatalere Krise erkannt: die ganze Welt steuert wie gelähmt darauf zu, auf die Klimakrise. Wir haben protestiert – sogar die Introvertierten gingen auf die Straßen. Was wollten wir? Dass man den EXPERTEN zuhört. Noch nichtmal uns! Wir wollten nur Aufmerksamkeit auf das Problem lenken, damit ihr, die doch so erfahrenen Generationen, unsere Zukunft rettet. Passiert ist, sind wir uns ehrlich, sehr wenig. Das würde ja die Wirtschaft nicht verkraften. Verzicht macht auch keinen Spaß, Verhaltensänderung noch weniger. Die Änderungen müssen langsam und graduell geschehen, wir wollen unser jetziges System nicht kippen, es nicht überlasten.

 Jetzt haben wir die Welt innerhalb von 2 Wochen komplett umgekrempelt. Für euch haben wir die Welt zum völligen Stillstand gebracht. 

Für viele wird es nun dreist wirken, sogar fahrlässig, über die Klimadebatte zu sprechen – wir hängen doch mitten in einer “anderen” Krise. Aber fühlt mal um euch. Man spürt eine Energie, eine Solidarität, eine Lebendigkeit. Diese müssen wir halten und nutzen, um uns für die nächste Krise zu wappnen – denn die kommt bestimmt. Momentan sind Virologen, Epidemiologen, und Ärzte unsere Heldinnen. Ihnen hört man zu, sie sind ja die Experten. Wenn jetzt ein Politiker behaupten würde, die Experten sehen das zu streng, das ist alles nicht so dramatisch, wir lösen das schon mit Technologie, soziale Isolation ist nur für linkslinke Verzichts-Fanatiker, würde er sich damit sein eigenes Grab schaufeln. Überträgt man diesen Gedanken auf die vorherige Klimadebatte, schaut es mit der Doppelmoral nicht gut aus. 

Die Gleichung wird gelöst werden, one way or another. Tun wir es doch bitte in einer konstruktiven, produktiven und solidarischen Art. 

Stellen wir uns doch vor, wir sind im Jahr 2021. Jetzt hören wir Klimaforschern, Meteorologen, Geologen und Energieplanern so zu, wie noch vor einem Jahr Virologen, Epidemiologen und Ärzten. Wir streiten uns nicht mehr darüber, welche Generation am meisten in Fragen des Klimas weiß, anstatt dessen hören wir zu. Und dann handeln wir – gemeinsam. Als solidarische, generationsunabhängige Gesellschaft – wie damals, in der Coronakrise.  

Generation Corona: Die Beschleunigung der Entschleunigung

Es war eigentlich schon längst überfällig, dass wir die Welt für ein paar Wochen abschalten. Wir sprachen seit Jahren von der immer beschleunigteren, komplexer und überfordernder werdenden Welt.

Kommunikation zwischen Menschen war schwer, auf den sozialen Medien türmten sich Selbstinszenierungen vom perfekten Leben, Fake News und Filterblasen. Der politische Diskurs lief eigentlich gar nicht mehr, echte Dialoge waren out, wirklich diskutiert wurde da schon lange nicht mehr. Nicht mal eine produktive Debatte zu einer der größten Bedrohungen der Welt, dem Klimawandel konnten wir objektiv und sinnvoll bewerkstelligen.

Trends wie Digital Detox, Minimalismus, Achtsamkeit, Arbeitsflexibilisierung fingen vor der Krise zwar an, langsam an Momentum zu gewinnen, aber die Kultur des Überkonsums und des Nächstenhasses war die dominierende. Die Coronakrise ist der Beschleuniger dieser Entschleunigungstrends, den wir so dringend brauchten, auch wenn es nicht ganz freiwillig ist. Die gemeinsame soziale Isolation hilft uns ein paar unserer Verhaltensmuster der Überdigitalisierung zu überdenken – vor allem wir aus den “jüngeren” Generationen.

Wir werden wieder lernen, wie man echte zwischenmenschliche Beziehungen zu seinen Nächsten durch digitale Medien pflegt – Reminder – das war der eigentliche Sinn der ganzen Konnektivitätstechnologie. Wer jetzt noch versucht auf Instagram & Co. das perfekte Leben zu inszenieren, ist wirklich erbärmlich und das wissen wir alle. Telekommunikation muss jetzt als echter sozialer Ersatz funktionieren, auch daraus können wir lernen: früher haben wir die Oma doch nur angerufen um sie dann nicht treffen zu müssen oder? Jetzt wo wir unsere geliebten (aber vielleicht nicht oft Besuchten) nicht mehr anders erreichen können, wird sich durch die Krise ein anderer Umgang ergeben. 

Nach mehreren Wochen des Zwangs-Onlineseins in Quarantäne werden wir auch wiedererkennen, wie schön es ist, sein Handy nicht als einzige Verbindung mit der Welt zu haben. Wir werden es REALDIGITAL nutzen, die Krise wird ausloten, wofür es wirklich Sinn macht. Jetzt wäre es doch so schön, sich über WhatsApp zu koordinieren um sich dann im Park, einem Café oder einer Bar zu treffen – und das Gerät dann in der Jackentasche zu lassen. Wer nach der Coronaisolation beim Essen im Restaurant noch immer an seinem Handy hängt, dem empfehle ich sich doch bitte etwas länger in Quarantäne zu begeben.

Die Welt nach Corona

Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise „vorbei“ ist.

Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird” und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.

Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen sie die RE-Gnose. Im Gegensatz zur PRO-Gnose schauen wir mit dieser Technik nicht »in die Zukunft«. Sondern von der Zukunft aus ZURÜCK ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal:

Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020

Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafé in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen.

Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?
Oder sogar besser?
Worüber werden wir uns rückblickend wundern?

Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.

Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.

Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.

Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.

Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch die »messages« selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.

Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.

Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert.
Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?

Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen…

Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.

Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien ihren Tipping Point.

Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.

Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?

Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.

Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie »Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.

Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.

Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.

Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?

RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung

Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am Einfachsten darzustellen.

Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein »Future Mind« – Zukunfts-Bewusstheit.

Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren »Events«, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.

Das fühlt sich schon ganz anders an als eine Prognose, die in ihrem apodiktischen Charakter immer etwas Totes, Steriles hat. Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.

Wir alle kennen das Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Wenn wir für eine Behandlung zum Zahnarzt gehen, sind wir schon lange vorher besorgt. Wir verlieren auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle und das schmerzt, bevor es überhaupt wehtut. In der Antizipation dieses Gefühls steigern wir uns in Ängste hinein, die uns völlig überwältigen können. Wenn wir dann allerdings die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang.

Coping heißt: bewältigen. Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunfts-Droge. Während uns Adrenalin zu Flucht oder Kampf anleitet (was auf dem Zahnarztstuhl nicht so richtig produktiv ist, ebenso wenig wie beim Kampf gegen Corona), öffnet Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende, neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.

Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt »endet«, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.

Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.

So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.

Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.

Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwort­lich­keiten bekam in dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch »futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen wieder Stimme und Gewicht.

Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden.

Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger

Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese.

Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch »Globalisierung« genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.

Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.

Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.

„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.”

Slavo Zizek im Höhepunkt der Coronakrise Mitte März

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.

Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.

Aber sie kann sich neu erfinden.
System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!
So geht Zukunft.

Hinweis: Dieser Text ist frei abdruckbar mit dem Hinweis: www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de.

Corona: 4 Szenarien

So ungewiss der konkrete Verlauf der Krise aktuell erscheint: Mit den Methoden und Werkzeugen der Trend- und Zukunftsforschung lassen sich die möglichen Folgen der Pandemie einschätzen. 

Das Zukunftsinstitut hat vier Szenarien entwickelt, die beschreiben wie unsere Zukunft nach der Pandemie mittelfristig aussehen könnte.

Ein Podcast aus der Serie TREFFPUNKT ZUKUNFT mit Tristan Horx.

Foto: Tristan Horx fotografiert von Klaus Vyhnalek (www.vyhnalek.com)