Das Neue Normal

Über unseren Weg in die Post-Corona-Zukunft

Womöglich sind Sie derzeit voll und ganz damit beschäftigt, zurück ins NORMAL zu gehen. Das ist mehr als verständlich. Es ist vollkommen verständlich, dass man will, dass alles so wird wie früher. Dass alles endlich wieder NORMAL wird, verdammt!
Aber geht das überhaupt?
Und was ist das überhaupt – NORMAL?

Beschreiben wir einmal die Welt vor Corona. Oft erkennt man man einen Ort ja erst dann, wenn man ihn verlassen hat und zurückschaut. Dasselbe gilt für eine bestimmte Zeit, eine Ära – wir verstehen sie manchmal nur rückwärts. Die Flugzeuge waren voll, übervoll. Man stand in langen Schlangen und war genervt. Im ICE telefonierten Leute laut und ignorant. Die Container fuhren über die Meere und brachten immer mehr neue Waren, Waren, Waren. Alles war voller Werbung, die unentwegt auf den Bildschirmen aufpoppte. Alle hatten Spaß, viel Spaß. Alles wurde immer schneller, billiger, aber auch nerviger. In den Firmen wurden ständig neue Absatzrekorde verkündet, neue Ziele gesetzt.

Auf Managementkongressen war die Siegespose das Normale.
Das heißt, nicht ganz. Im Januar, einen Monat vor dem Virus-Ausbruch, kam Greta Thunberg mit dem Zug nach Davos. Sie stand etwas verloren zwischen lauter Herren in Anzug und Schlips, die irgendwie schuldbewusst aussahen, und beteuerten, jetzt, demnächst, alles besser machen zu wollen. Immer größere Kreuzfahrtschiffe fuhren auf den Weltmeeren und legten – zum Beispiel – mitten in Venedig an. Dort am Kai saß ein unerkannter Straßenkünstler namens Banksy und verkaufte Gemälde von überfetten Kreuzfahrtschiffen an der Pier von Venedig. Einige kauften Bilder, weil sie dachten, es seinen Touristen-Bilder vom schönen Venedig.

Banksy, mit Hut getarnt, am Kai von Venedig. Oder ist es gar nicht Banksy? Wer ist Banksy überhaupt?

Das ALTE NORMAL war eine hektische Zeit. Eine Zeit der Ängste und rasenden Befürchtungen. Im Internet, und nicht nur dort, blühte der Hass, der Shitstorm und die Bösartigkeit. In den Talkshows wurde alles zerlegt, fragmentiert, polarisiert, polemisiert. In dieser Kultur der Bezichtigung ging es vor allem darum, das letzte Wort zu behalten.
Wir waren süchtig nach immer mehr Verwertungen. Auch von Ängsten und Befürchtungen. Nach Steigerungen. Nach unendlichem Spaß.
Aber gleichzeitig waren wir völlig verwirrt. Konfus. Orientierungslos.
Es war eine Normalität, die nicht an ihre Zukunft glaubte.
Die auf eine seltsame Weise in ihren eigenen Untergang verliebt war.

Und dann plötzlich: Stille. Am Flughafen. Im Bahnhof. In der Innenstadt. Im Stadion. An den Piers.

Mal ehrlich: Wollen Sie wirklich dorthin zurück? Ins ALTE NORMAL?

Von Wollen kann keine Rede sein, sagen Sie jetzt. Aber wo sollen wir den hin? Es muss ja weitergehen mit unserem gewohnten Leben. Die Wirtschaft. Der Wohlstand. Es muss alles wieder hochfahren. Ganz schnell. Ganz dringend. Sonst bricht tatsächlich alles zusammen.
Wirklich?

Wie wir die Welt konstruieren

Die meisten Menschen glauben, dass die Welt etwas Feststehendes ist, das wir von außen betrachten und bewerten können. Aber in Wahrheit findet die Welt in unserem Kopf statt. Unser Hirn ist so etwas wie eine Simulationsmaschine, in der ununterbrochen Wirklichkeiten konstruiert werden.
Unsere Wahr-Nehmung der Welt ist von Erwartungs-Routinen geprägt, die in uns wie eine ratternde Maschine laufen. Am laufenden Band schaffen wir uns Bilder, Konstruktionen, Ideolo-gien, die wir auf die Welt projizieren. Dadurch erscheint die kontrollierbar. Diese Konstrukte, die unsere Erwartungen repräsentieren, sind reine Fiktionen. Aber wir halten sie für real. Wir beharren auf ihnen, um jeden Preis. So lange, bis wir uns selbst mit ihnen verwechseln.

Im Grunde ist das eine Art Drogenabhängigkeit. Wenn wir unsere Erwartungen und Vorurteile bestätigt fühlen, erleben wir einen kleinen Euphorie-Kick. In unserem Hirn wird eine Dosis Glückshormon ausgeschüttet: Ich habe es doch gewusst! Dieses angenehme Gefühl hat die Evolution in uns eingebaut, damit wir uns mit den Zusammenhängen der Welt beschäftigen. Das dient zum besseren Überleben.

Viele unserer Vor-Urteile und Ansprüche darüber, wie die Welt zu sein hat, haben mit dem Reminescence Bump (Rückerinnerungs-Hügel) zu tun.

Damit bezeichnen die Kognitionspsychologen die intensive Formungsphase, in der sich unsere Vorstellung der Welt bilden, meistens in der Jugend. Das ist der „set point“ unserer Erwartungen an die Welt. Diese Auffassung, wie die Welt zu sein hat, tragen wir dann durch unser ganzes Leben.
Genau diese inneren Routinen sind es aber auch, die uns quälen. Sie machen uns fragil. Sie halten uns in einem Zustand ständiger Gereiztheit, ewiger Unzufriedenheit. Denn irgendwas kommt immer dazwischen. Die Welt funktioniert ja nie ganz, wie wir wollen. Wir werden immer nervöser, wenn die Welt nicht mit unseren Erwartungen zusammenpasst. Wir finden dann irgendwann sogar das Schlechte gut – weil wir uns dadurch bestätigt fühlen (der kleine Kick). Oder wir starren nur noch auf das Schlechte und fühlen uns dadurch in unseren Ängsten und Verletztheiten bestätigt. Das ist die Negativity Bias, die Negativ-Verzerrung. Wir neigen dann zur Häme. Zur Abwertung der Welt, auch unserer inneren Welt.

Unsere größte Sorge gilt dabei der Frage, ob wir genug Bedeutung haben. Für Bedeutung tun wir alles. Deshalb stellen wir uns ins Internet und gieren nach „likes“. Wir schütten unsere Mitmenschen mit unseren Meinungen, Ängsten und Aggressionen zu. Oder posieren mit unseren Smartphones am den „besten Plätzen der Welt“, um uns zu vergewissern, dass wir „da“ sind.
Wir sind aber gar nicht dort, nicht wirklich.
Auch Verschwörungstheorien haben mit dieser Selbstvergewisserung zu tun. Verschwörungsfreunde fühlen sich ja sehr mutig und äußerst bedeutsam. Sie sind ja ganz anders als alle anderen, als der blöde mainstream! Das weist aber darauf hin, dass sie sich in Wahrheit völlig verunsichert fühlen.
Man kann das besonders gut an Donald Trump beobachten. Aber bisweilen auch an sich selbst.

In der Krise ist diese ständig ratternde Anspruchs- und Erwartungsmaschine plötzlich zu einem knirschenden Halt gekommen. Sie wurde plötzlich sinnlos. Viele von uns haben in dieser Zeit eine Art innere Inventur gemacht. Wer die Krise derart zu nutzen wusste, der lernte seine inneren Gespenster und Dämonen ein bisschen besser kennen. Er trat sozusagen mit ihnen in Verhandlung. Er geriet in den Wandel.
Damit segelte er/sie der alten Welt, der Prä-Corona-Welt, davon. Wo aber segeln wir hin?

Wie Wandel geschieht

Über das Neue Normal, das jetzt entsteht, gibt es zwei verschiedene Anschauungen. Die eine geht davon aus, dass tatsächlich etwas Neues beginnt. Wir können vielleicht noch nicht genau wissen, was das genau ist. Aber es deutet sich etwas an, das der Zukunft eine andere Richtung gibt.
Die gegenteilige Denkweise wird von denjenigen vertreten, die immer schon alles gewusst haben. Durch die Krise wird sich nicht das Geringste verändern. Menschen, Gesellschaften, sind unfähig, sich zu verändern. Alles geht demnächst weiter den Bach herunter, nur schneller.
Es ist allerdings schlechterdings unmöglich, dass alles so bleibt, wie es war. Menschen, Gesellschaften, Kulturen, wandeln sich ja andauernd, sonst wären wir gar nicht hier. Das ist das evolutionäre Prinzip.

Besteht unser eigenes Leben nicht aus einer wahren Aneinanderreihung von Krisen? Geburt, Kindheit, Pubertät, Berufsleben, Familie, Reifung. Alter – sind das nicht alles krisenhafte Ereignisse, Übergänge, Transformationen, die immer mit Schmerz und Verlust verbunden sind, wenn sie gelingen sollen ? Und machen wir nicht immer die Erfahrung, dass Liebeskrisen, Berufskrisen, Orientierungskrisen dann zu einer neuen Richtung führen, wenn wir sie annehmen?
Wenn wir IN UNS Antworten finden, statt dauernd nur Ansprüche und Forderungen und alte Normalitäten zu formulieren?

Manchmal können auch ferne Katastrophen den Gang der Geschichte verändern. Das schreckliche Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, bei dem 60.000 Menschen ums Leben kamen, führte zu einem Schub für die Aufklärung in Europa, der weit in die Zukunft reichte. Damals schrieb Voltaire sein Manifest für den Sinn des Verstandes, Architekturen, Denkweisen, Mentalitäten veränderten sich; es begann eine Ära des Aufbruchs aus den Unmündigkeiten.

In der Weltwirtschaftskrise von 1928, die inzwischen häufig als Vergleich für die COVID-Krise angeführt wird, entstand in Amerika ein neuer gesellschaftlicher Kontrakt. Im NEW DEAL wurden die Balancen zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik neu bestimmt. Daraus sollte schließlich Wohlstands- und Fortschritts-Modell entstehen, dass sich mehr als ein halbes Jahrhundert als äußerst erfolgreich erwies. Natürlich hatte auch dieses Modell des „Westens“, seine Schattenseiten, seine Rückfälle. Aber es erzeugte Zukunft, es veränderte die Welt.

Ist es wirklich so völlig ausgeschlossen, dass die COVID-Krise den kommenden GREEN DEAL beschleunigt? Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Gerade die Wirtschaft braucht im Corona-Zeitalter eine neue Legitimität. Eine neue Narration, die sie wieder mit den Kunden, den Gesellschaften, den Märkten der Zukunft verbindet.

Die Welt von morgen wird aus den Fragmenten der Vergangenheit gemacht.
Erich Panofsky

Diese Krise wird die globalen Machtverhältnisse verändern. Sie enthüllt, welche gesellschaftlichen Systeme Krisen gewachsen sind, und welche nicht. Die kleinen Länder, oft von Frauen (oder integrativ agierenden Politikern) geführt – Neuseeland mit Jacinda Ardern, Dänemark, Portugal, Irland, Island, Finnland, Österreich, auch Schweden mit seinem kooperativen Sonderweg – kommen nicht nur besser durch die Krise, sie gewinnen darin auch neue Formen gesellschaftlichen Vertrauens. In anderen Ländern, den USA, Brasilien, Russland, wird die die Gespaltenheit, die innere Kaputtheit, umso sichtbarer. Hier erleben die Menschen die Seuche als Demütigung, als Niederlage. Das führt in die Finsternis, in einen Katharsis-Prozess, der irgendwann Platz für eine Renaissance machen wird.

Die Grenzen der Dekadenz

Was sich im NEUEN NORMAL dauerhaft verändern könnte, ist auch unser Verhältnis zum Spaß, der nicht mehr spaßig ist.
Wir erinnern uns: Der Virus tanzte mit auf den Tischen, als in Ischgl die After-Ski-Partys ihrem Höhepunkt zustrebten. Das Champions-League-Fussballspiel Atalanta-Valencia am 19. Februar, mit 44.000 frenetischen Zuschauern, verteilte das Virus über ganz Südeuropa. Jetzt wurde sogar das OKTOBERFEST abgesagt! Das Oktoberfest! Symbol für die Spaßgesellschaft, für die Rituale des Rausches und der Lebensfreude!

Mein Freund Michael Lehofer setzt sich in seinem neuen Essay: „Die unheimliche Erleichterung” mit den Grenzen des Spaßes auseinander:

„Zusätzlich erleben viele von uns insgeheim in der Krise eine fast beschämende Erleichterung, eine Befreiung von vielem, nicht zuletzt von einem Teil von sich selbst. Es ist wie ein verbotenes Glück im Unglück. Dieser Teil, den wir abwerfen dürfen, ist die Dekadenz. Die Dekadenz ist ein Zustand, der durch die Überfeinerung von Lebensgewohnheiten und Ansprüchen definiert ist. Kurz gesagt: Wir haben uns durch die Selbstverwöhnung geschwächt und wissen nicht mehr, wofür wir stehen und was wir wirklich brauchen. Wir alle versuchen ein schönes Leben zu führen. Deshalb optimieren wir den Genuss und zerstören ihn damit. Das kann man einfach selbst erfahren, wenn man genusssüchtigen Menschen zuhört, die über ihre vermeintlich tollen Erlebnisse berichten. Es sind Berichte, die sich nicht lebendig anfühlen, als ob sie nur darüber gelesen hätten. Das Blutleere in diesen Erzählungen erklärt sich durch die Vorstellung vom Schönen, die sich vor das unmittelbare Erleben gestellt hat. Was wir nicht erleben können, macht uns nicht satt. So erklärt sich die Unersättlichkeit des Dekadenten.”

Natürlich werden auch im Neuen Normal wieder Partys gefeiert. Es werden wieder Flieger nach Mallorca fliegen, Fußballspiele stattfinden, Kreuzfahrtschiffe fahren. Aber wie werden diese Kreuzfahrtschiffe aussehen? Werden wir uns wirklich wieder in vollgestopfte Billigflieger für 25 Euro das Ticket setzen? Wird der Fußball immer weiter in Richtung auf irrwitzig teure Glamour-Stars und Stadion-Randale gehen?
All das hatte schon im Alten Normal seine Grenzen erreicht. Die Kreuzfahrtbranche bereitet sich derzeit, wie die Luftfahrtindustrie (und langsam auch die Autoindustrie und der Fußballsport und viele andere Branchen) , auf einen völlig anderen Zukunftsmarkt vor. Viele Boom-Märkte, so wissen heute längst die klugen Manager, werden in Zukunft dauerhaft kleiner sein, volatiler, gebremster. Und ja doch: Auch grüner, nachhaltiger, vorsichtiger.

Der ECONOMIST, das wichtigste Wirtschaftsmagazin der Welt, nennt das die 90-Prozent-Ökonomie. Nie mehr, so die These, wird die Weltwirtschaft ihre Vor-Corona-Überhitzung erreichen. Zehn Prozent mindestens werden immer fehlen. Turbokapitalismus ohne diese entscheidenden zehn Prozent ist jedoch keiner mehr. Das bedeutet nichts anderes als die Entschleunigung der Globalisierung.
Das heißt nicht das Ende des Wachstums. Es heißt nur das Ende DIESES Wachstums. Des ver-alteten Wachstums.

Die No-kalypse

Ohne Zweifel hat diese Krise viel Leid mit sich gebracht, quälende Unsicherheiten, ökonomische Not. Das lässt sich nicht kleinreden, und es ist noch nicht vorbei. Aber gleichzeitig ermöglicht sie uns einen Blick auf das ANDERE. Sie macht die Dinge der Zukunft klarer, transparenter. Wäre es nicht schön, wenn wir daraus etwas machen?

Was im NEUEN NORMAL anders sein könnte, wäre zum Beispiel das Empfinden von Dankbarkeit. Dankbar können wir sein gegenüber denen, die die Zivilisation am Laufen hielten. Und dafür sorgten, dass es eben keine Apokalypse wurde, sondern (wie mein Sohn Tristan das getauft hat) eine NO-Kalypse. Die Welt ging „unter“, aber vieles funktionierte erstaunlicherweise sogar besser als vorher.

Dankbar sollten wir sein, dass wir eine Krise erleb(t)en, die sich von den furchtbaren Katastrophen, die unsere Vorfahren erlebten, erheblich unterscheidet. Als unsere Großeltern vor 75 Jahren aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs krochen, war es kaum denkbar, dass jemals eine friedliche, wohlständige Zeit anbrechen könnte.
Wer dankbar ist, stellt nicht immer sein Ego, seine Erwartungen, Meinungen und Ansprüche in den Mittelpunkt. Er schaut, was ist. Und was daraus werden kann mit seinem Zutun.

Im NEUEN NORMAL würden wir uns nicht mehr einreden lassen, dass es nur EIN einziges ökonomischen Zukunftsmodell gäbe, das Standard-Wachstums-Modell der Ökonomie. Wir würden etwa den neuen Wohlstands-Index von Island zum Maßstab nehmen, der auch die qualitativen Dimensionen von Prosperität misst – Umwelt, Gesundheit, Verbundenheit, Lebensqualität, Selbsterleben.

Wir könnten gelassener werden. Wir könnten uns entscheiden, nicht mehr jeder medial aufgeblasenen Hysterie, jeder galoppierenden Angst hinterherzurennen.

Wir könnten freundlicher werden. Denen gegenüber, mit denen wir verbunden sind. Aber auch mit denen, die wir erst kennenlernen.

Wir könnten verantwortlicher werden. Für uns selbst, für unser eigenes Denken, unsere Gefühle.

Denken lernen meint, dass wir zumindest etwas Kontrolle über das WIE und WAS unseres Denkens erlernen. Es meint, bewusst genug zu sein, um zu entscheiden, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten. Und zu verstehen, wie wir Sinn aus Erfahrungen generieren. David Foster Wallace

Das interessante am NEUEN NORMAL ist ja, dass es mit den Kriterien der Vergangenheit nicht mehr zu verstehen ist.
Das sollten wir bedenken, wenn wir uns vorsichtig ins NORMAL zurücktasten. Die Zukunft beginnt, wenn wir anfangen, uns zu WUNDERN. Und damit aufhören, die Zukunft zu verhindern, indem wir nicht an sie glauben.

Der Weg der Re-gnose

Begeben wir uns zum Schluss noch einmal auf den Zukunfts-Stuhl auf dem wir uns sozusagen selbst voraussagen. Es ist Ende Oktober 2020. Sie sitzen in einem Straßencafé in Venedig, auf dem Markusplatz. Bald wird es hier wieder acqua alta geben, das Herbst-Hochwasser.
Wie hoch wird es dieses Jahr?
Was ist anders geworden – womöglich für immer?
Gehen Menschen über den Platz? Tragen sie alle Masken?
Hören Sie das typische Klackern der Rollkoffer?
Sehen Sie den Kellner? Ein cooler italienischer Typ, Mitte 50. Trägt er eine Maske? Ja, eine Maske in den italienischen Farben.
Gibt es Tauben? Wo sind eigentlich all die Tauben hin?
Was hat dieser Platz alles schon gesehen? Kaufmannsaufzüge und Gauklerzüge, Pomp und Kommerz, Aufstände, Reformen, Revolutionen. Und immer wieder Epidemien. Seuchen haben Venedig in jedem Jahrhundert verändert. Auf diese Weise, durch den Wandel in Krisen, ist die unvergleichliche Schönheit dieser Stadt erst entstanden.

Von hier aus reicht alles in die tiefe Vergangenheit, und in die weite Zukunft.

Gibt es Flugzeugstreifen am Himmel?
Liegt da draußen am Kai schon wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff, mit 3500 Passagieren und diesem typischen Rußspuren am Schornstein?
Spüren Sie, wie die Welt sich neu zusammensetzt. Sie setzt sich immer neu zusammen, darauf können wir vertrauen.
Schauen Sie zurück, auf sich selbst, wie sie in der Lockdown-Zeit waren. Blicken Sie dann nach vorne, in eine Welt, die einen anderen Ton anschlägt, eine andere Melodie spielt. Können sie sich dort vergegenwärtigen?

Re-Gnose bedeutet, dass wir verstehen, dass wir selbst Teil der Zukunft sind. WIR sind der Wandel, den wir von der Welt erhoffen.
Wenn SIE selbst neu werden, wird die Welt neu.
Sie sehen dann, dass die Zukunft längst da ist.
So geht Wandel, nicht anders.

Die Un-Apokalypse die wir brauchten

Vielleicht haben wir alle zu viele Netflix- und Hollywood-Untergangsfilme geschaut. Radikaler Wandel wird immer durch Zombies visualisiert, durch brennende Städte und riesige Fluten, die alle Hochhäuser zerstören. Wieso auch immer, aber wir lieben diese fantastischen Apokalypsen, in denen die Welt, wie wir sie kennen, krachend zugrunde geht.

In der ursprünglichen griechischen Bedeutung liegt das Wort »Apokalypse« näher an »Offenbarung« oder »Enthüllung«, weniger an der totalen Zerstörung, die wir damit assoziieren. Wir erwarten, dass die einzige Chance unsere über-beschleunigte Welt zu bremsen, in einem totalen System-Kollaps besteht. In diesem Sinne ist Covid-19 vielleicht nicht ganz die Krise, die wir erwarteten, aber vielleicht die, die wir dringend brauchten. Die Corona-Krise zeigt uns Risse und Spannungslinien in unseren Systemen auf, sie enthüllt Schwächen oder Disparitäten, an die wir uns gewöhnt hatten, und die wir für unveränderlich hielten. Sie zeigt uns all das fast ganz ohne Gewalt oder totalen Zusammenbruch: auf eine stille, fast bescheidene Art. Eine Art Un-Apokalypse eben.

Wie uns die zyklische Natur der Geschichte zeigt, sind wir verdammt sie zu wiederholen, wenn wir nicht aus ihr lernen. Sie wiederholt sich zwar nie exakt, spielt aber doch eine ähnliche Melodie. Wir sind derzeit am Beginn des Endes des Generations-Zyklus der Baby-Boomer. Generations-Zyklen beginnen mit massiven, weltverändernden Krisen. Ein paar Beispiele: die große Depression in Amerika, der Zweite Weltkrieg, die amerikanische oder französische Revolution. Und, wenn wir es nicht besser machen, die Millennium-Krise. Die Zyklen folgen dann den vier Jahreszeiten, wie in der Natur, und definieren dabei den jeweiligen Zeitgeist – um zum Schluss in der nächsten großen Kalamität zu enden.

Folgen wir also den Jahreszeiten der nun dominanten, bereits zum MEME gewordenen BABY BOOMER (geboren 1946 – 1965).

Euer Frühling war der Wiederaufbau nach der totalen Zerstörung der Weltkriege. Neue globale Strukturen wurden errichtet, um die Rückkehr der Kriege, und die Zerstörungen, die sie mit sich brachten, zu verhindern. Die Welt lag euch zu Füßen – wenn auch etwas ramponiert.

Euer Sommer war die Hippie-Bewegung – die Rebellion! Wie es in dieser Jahreszeit typisch ist, waren die Nach-Krisen-Organisationen zu rigide und autoritär, die Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Individualisierung brach sich Bahn. Freie Liebe, keine Kriege mehr, mehr Sex, rettet den Planeten! Wunderbar.

Euer Herbst war weniger rosig. Die Kulturkriege nach Vietnam ließen die erkämpften Ideale verblassen. Als die Blätter fielen, triumphierte Individualismus über die Gemeinschaft, die Gesellschaft änderte sich. Aber diese Veränderungen konnten sich nicht bewähren. Pluralismus und Heterogenität führten zu wachsendem Chaos.

Euer Winter ist der Winter aller. Die Ökonomie war überladen und überlastet mit sturem Individualismus, der zu einem Machiavellihaften Egoismus an der Spitze der Pyramide führte. Neuigkeiten wurden ersetzt durch Echokammern, sogar die persönliche Kommunikation wurde mehr und mehr polarisiert und digital zerfasert.

Die Generation Z, rund um die Jahrtausendwende geboren, hatte ebenfalls keine gute Zeit. Verdrossenheit gegenüber einem System, das viel zu egozentrisch geworden war, wurde »Faulheit am Arbeitsmarkt« genannt. Digitale Affinität mit Sucht gleichgesetzt. Versuche die Welt zu verändern als naiv gewertet. Allerdings waren die Krisen, die die Millennials erlebten, wesentlich abstrakter als die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts. Es wurde akzeptiert, dass eine inflationäre Ökonomie alle zehn Jahre einen massiven Crash hinlegt. Die Jungen wurden Zeugen mindestens zwei solcher Krisen, die weit entfernt in den Elfenbeintürmen der New Yorker Börse begannen, uns aber nie so direkt betrafen wie die heutige Un-Apokalypse.

Nehmen wir einmal an, die Corona Krise ist der Beginn des nächsten Generations-Zyklus. Diese Krise verändert uns alle auf einer persönlichen, greifbaren Ebene. Generation Z war die letzte Generation vor dem »Großen Reset« – OK für mich, wir waren ja sowieso am Ende des XYZ-Alphabets angekommen. Die vier Jahreszeiten der nun beginnenden GENERATION CORONA werden nicht dieselben sein, aber es erklingen wieder bekannte Melodien.

Ihr Frühling galt der Reparatur des globalökonomischen Systems, aber hoffentlich nicht in derselben überbeschleunigten Weise. Ein Zusammenbruch alle paar Jahre war einfach nicht mehr ertragbar. Es gab einen instinktiven Rückzug in den Nationalstaat, um mehr Kontrolle über die eigenen sozioökonomischen Systeme zu erlangen. Hände schütteln wurde plötzlich seltener.

Ihr Sommer war konsequenterweise eine Rebellion gegen die starre re-nationalisierte Weltordnung. Die nächste Krise würde in ihrer Natur global sein und mit voller Wucht kommen. Sie wieder-verbanden die Welt, diesmal mit realen Sozial-digitalen Strukturen. Keine Echokammern mehr, keine Fake News.

Ihr Herbst ist heißer als erwartet. Während sie die Welt wieder zusammenführten und versuchten, sich selbst zu finden, vergaßen sie, die Institutionen zu adaptieren. Klingt bekannt? Die Jugend des Jahres 2050 rief von den Dächern herunter, aber die Generation C war zu sehr beschäftigt mit ihrem eigenen Leben. Plötzlich stand die globale Krise, die sie im Sommer vorausgesehen hatte, direkt vor der Tür.
William Gibson, der geniale Boomer-Sci-Fi-Autor, der auch den Begriff »Cyberspace« erfand, nannte diese akkumulierte Krise, die nun folgte, den JACKPOT. Alle Krisen und Katastrophen aufeinandergetürmt. Big, big mess, bigger than Corona.

Ihr Winter hat wenig Schnee, aber einer Rezession folgte der Dritte Weltkrieg – dieses Mal fast ausschließlich im Cyberspace. Mit Klimaflüchtlingen überall quälte die Furcht vor einer globalen Pandemie erneut die Menschheit. Die stärksten Nationen taten sich zusammen, um es ihren Bürgern zu ermöglichen, die Erde zu verlassen. Mars First, dann der Asteroidengürtel, schauen, was am Jupiter noch geht, und weiter hinaus ins Sonnensystem. Das Space-Age hatte endlich begonnen, mal sehen, wer zuerst da ist. Elon Musk, lebensverlängert, wird uns sicherlich helfen.

Dieses Szenario ist natürlich lediglich ein mentales Experiment zur Selbsterkenntnis. Eine Re-Gnose eben. Es folgt dem zyklischen Modell von Strauss-Howe und M. Hopf, der die wiederkehrenden Muster der Geschichte so beschrieb: Harte Zeiten erzeugen starke Männer. Starke Männer erzeugen gute Zeiten. Gute Zeiten erzeugen schwache Männer. Und schwache Männer erzeugen harte Zeiten.

Aber die Covid-Krise ist nicht eine der „wirklich harten Zeiten”, wie sie die Menschheit immer wieder durchlaufen hat, dafür ist sie eben zu Un-apokalyptisch. Zum Glück sind es nicht mehr nur die Männer, die die Zukunft heutzutage definieren. Was Frauen schon lange können, schätzen wir nun auch, wir wenden es sogar an: Zwischenmenschlichkeit. Wenn es etwas gibt, was mir an der jungen Generation auffällt, ist es, dass der massive Zugang zu Kommunikation, Information und Wissen sie zum Besseren verändert hat. Auch, wenn sie von ökonomischen Krisen und Ungerechtigkeiten gebeutelt wird, tendieren die sozialen Werte der Jungen zu Toleranz und Diversität. Sie verstehen sogar (meistens), dass unsere Unterschiede uns resilient machen.

Wir sind alle Teil der Generation Corona. Ihr Boomer, wir Jungen, die vergessene Generation X und die neuen Kids nach der Krise. Alle. Schon vor der Krise konnte man Menschen kaum anhand von Alter definieren, sondern durch Werte und Lebensstile. Wir brauchen keine komplette Zerstörung, um unsere Richtung zu verändern – eine bescheidene Un-Apocalypse reicht schon aus. Wie wenn die Aliens endlich angreifen – ein simpler Virus kann denselben Komplexierungs-Job übernehmen.

Wenn wir zurück ins 20. Jahrhundert blicken, dann haben wir uns weitgehend von Rassismus und Sexismus befreit. Nahezu auch von Kulturalismus, und wir werden hoffentlich auch den Generationalismus überwinden – die vorletzte Bastion der sozialen Spaltungen außer Arm und Reich. In dieser Hinsicht könnte die gegenwärtige Un-Apokalypse als ein Segen in Verkleidung erscheinen. Die humane Evolution wurde immer durch die Überwindung scheinbar unveränderbarer Verhaltensmuster vorangetrieben. Wir werden das Mühlrad der Geschichte zusammen beenden. Oder zumindest die verschiedenen Melodien der Generationen zu einer Symphonie vereinen.

Learning from the History of the Future

Looking back from the future (regnose) is a well tried technique to think about outcomes and many writers and thinkers have experimented with this using different methods and with varying measures of success over the years. Here are just a few of the examples from some of the more colourful characters from my book, A Brief History of the Future (also in German, as Die Visionäre).

Colette’s Lover and the Art of Imagining a Good Day
France’s most famous futurist, Bertrand de Jouvenel was the son of Baron Henry de Jouvenel, one of the most influential and charismatic political journalists in Paris. When Bertrand was just three years old, his parents separated and after taking various scandalous lovers, Henry shocked French society even more by taking up with the author Colette, who had just left her aristocratic lesbian lover. Colette and Henry married in 1912, but it was not until the spring of 1920 that Bertrand was finally allowed to meet his infamous stepmother. At sixteen, he was still shy, but was showing all the signs of having inherited his father’s good looks and charm. Within a year he had become Colette’s lover, and would remain until he was twenty-one, becoming the source of much gossip and speculation. As Colette’s biographer Judith Thurman remarked to a family friend, “I could understand Colette’s attraction for Bertrand, but what, I asked bluntly, did a beautiful boy of sixteen see in a fat and domineering woman of fifty however charming she might be?”
The answer lay not just in her powerful seductive charms, or revenge on his inattentive, domineering father, but also his thirst for knowledge and experience outside the conservative confines of Parisian society. Writing late in his life de Jouvenel recalled, “the pleasures she gave me were all those which open a window on the world, which I owe entirely to her”.

De Jouvenel’s interest in politics and the future began in his youth when he accompanied his diplomat father to the peace conferences after the First World War, but it was later fuelled by the works of H. G. Wells, of which he read everything he could. He travelled through America and Britain during the 1930s and observed, at close hand, poverty, the soup kitchens and the plight of the homeless. Following a shameful and much-regretted flirtation with the unemployment policies of the Nazis during the Second World War, de Jouvenel became engaged in the problems of authoritarian governments that were gripping Asia and Africa in the 1950s.

It was, however, the Ford Foundation that gave de Jouvenel his first big break in futurism in 1960 when it financed a project called »Futuribles«. This was a think tank of experts who got together to speculate and write essays about the future of society and politics in the spirit of the sixteenth-century Spanish Jesuit theologian Luis de Molina, who first coined the term »futurible« to fuse the ideas of future and possibility. As de Jouvenel explained, „the purpose is to generate a habit, the habit of forward-looking”. Less reassuringly, but rather charmingly, he took pains to explain: “Our authors . . . certainly do not pretend to any knowledge of the future, which would be foolish, but neither do they pretend that they have no opinion about it, which would be evasive”. Furthermore, he admitted to his critics that, yes, their purpose was essentially unscholarly, and no, it was not scientific, but in the great tradition of French philosophising, it took them into the realm of »possibles«. It was this period in which de Jouvenel was inspired to put to paper his ground rules and philosophical parameters for thinking about the future.

The result was a handbook, The Art of Conjecture, published in French in 1964. In it he distinguished between the possible (what we know) and the desirables (what we wish for), and pointed out that &lquo;Man is fortunate when the desirable and the probable coincide! The case is often otherwise, and thus we find ourselves trying to bend the course of events in a way which will bring the probable closer to the desirable. And this is the real reason we study the future.” There was no prediction per se in the book, but lots of philosophical ruminating on defining the future and the fact that knowledge of the future is a contradiction in terms. For de Jouvenel there was no one future, but a fan of possibilities to be unfolded. How too, he philosophised, can we even begin to define the future if it is “pre-existent – something existing before it appears”. At the time his book was considered a ground-breaking contribution to futurism.
When funding from the Ford Foundation ran out, de Jouvenel had the prescience to keep the catchy name Futuribles, and in 1967 set up his own research institute in Paris. For a while he enjoyed considerable success and a reputation as a suave political philosopher, travelling the world to give speeches and advice.

By the time of his death in 1987 he had rather fallen off the futurological radar, and it was left to his son Hughes to run the institute. Today Futuribles still publishes journals on a wide range of themes using a Delphi-like network of some 350 correspondents to identify »possible« global trends and Hughes is working, as his father before him, to emerge from the paternal shadow as a thinker in his own right. As well as setting a high standard for his son, Bertrand de Jouvenel’s legacy was that he believed that we should try to forget about prophesy per se, and simply take time to imagine what makes a good day for an ordinary man. Writing in The Art of Conjecture he poetically recommended, “Take this man when he wakes up; follow him through to the time of sleep. Plot as it were, the sequence of his pleasurable and unpleasurable impressions, and now imagine what a »good day« should be. Picturing this »good day« is the first step into a modern utopia; then you will have to seek the conditions, which can bring about this good day.”

Bellamy’s Dream: Looking Backward to Look Forward

Looking Backward, was the last of the great optimistic utopias of the nineteenth century. First published in 1888, it was, like many a utopia before it, an instant hit and became the third bestselling book in America after Uncle Tom’s Cabin and Ben-Hur. It stars Julian West, a Bostonian who goes to sleep in 1887 and wakes up in a socialist paradise, 113 years, three months and eleven days later in the year 2000. The book was a futurist manifesto disguised as fiction, “intended in all seriousness as a forecast, in accordance with the principles of evolution, of the next state in the industrial and social development of humanity.”

Young West awakens in the home of a fine gentleman called Dr Leete, who conveniently has a beautiful and unattached daughter. Here in the year 2000 we find many of the superficial delights of modern-day society. For a start there is abundant electric lighting and everyone can enjoy »music by telephone« or even listen to a sermon from the comfort of their armchair. “There are some who still prefer to hear sermons in church”, explains Dr Leete, “but most of our preaching, like our musical performances, is not in public, but delivered in acoustically prepared chambers, connected by wire with subscribers‘ houses.” Even Bellamy’s description of shopping malls sounds uncannily like those of today: “A vast hall of light . . . the walls and ceiling were frescoed in mellow tints calculated to soften . . . Around the fountain was a space occupied with chairs and sofas, on which many persons were seated conversing.” He also noted that these »distributing establishments« would, for the sake of convenience, all sell exactly the same goods.

Bellamy also had a vision of an efficient delivery service. Bringing to mind the speed and advertising slogans of courier services today, Ms Leete boasts to West that “my order will probably be at home sooner than I could have carried it from here”. The young lady naturally does not pay in the future in cash, but with »an American credit card« which is available to everyone and can conveniently be used abroad. Unlike the credit cards of the twenty-first century, Bellamy’s are used to distribute “surplus wealth (which) . . . all enjoy in equal degree”, and as a result, selfishness and »excessive individualism« have been all but eradicated.

The »female question« is a trickier matter for many (male) futurists. Bellamy finds it hard to foresee how women would live, think and want today. Where he fails, as many before and after him, is to envisage the more subtle social and moral shifts in society. Bellamy for example, still envisions the ladies politely retiring after dinner, and leaving the men to discuss more important matters. Unmarried women – even in the twenty- first century – are, according to Bellamy, poor specimens to be pitied, though on a more positive side he foresaw that the independence of women means that “there can be no marriages now except that of inclination”. Bellamy himself was happily married to his adopted sister, with whom he had two children. As a well-off writer and subsequently a speaker much in demand, he would have been able to afford domestic help, and his wife would, as he hoped for women of 2000, have been released from domestic drudgery. Indeed, women in the future would not need to cook as every household would be able to eat à la carte in a community dining hall.

Gilman’s Mountain: Female Forecasting

A great fan of Bellamy’s was the writer Charlotte Perkins Gilman. A compatriot and contemporary of Bellamy, Gilman referred to Looking Backward as “that great modern instance”, even if half of the inhabitants of that »instance« were poorly represented by her tough feminist standards. Celebrated more in feminism than futurism, she was, however, one of the first significant female futurists even though the details of her life and death were so miserable that one would seriously think twice before reading her vision of any future. Charlotte’s father abandoned the family shortly after her birth, and she grew up in poverty with a repressive mother who, like Bellamy’s, deprived her, as a matter of principle, of maternal love. As an adult she suffered severe postnatal depression, and was ordered to take to her bed and avoid intellectual excitement. This led to a complete nervous breakdown, and when she eventually recovered, she promptly divorced her husband, then scandalised society further by sending her daughter to live with him. Three years after she was diagnosed with inoperable breast cancer in 1932 she killed herself, preferring “chloroform to cancer”.

But do not let that put you off. There is no Cassandra-like doom and gloom in her writings, and her two main futuristic works are – at least from a woman’s point of view – funny and prophetic in unexpected ways. Admittedly Gilman had a very distinctive feminist-driven vision of the future, and confessed that she only “wrote to preach”. Strangely, her predictions are interesting not because they were wildly wrong, nor because they have come true, but because nearly a hundred years later, some fundamental questions and concerns have not changed. Answers are all very well, but asking the right questions at the right time is one of the founding principles that sets an interesting futurist apart from a mediocre one. One of Gilman’s most prophetic and funniest scenes is from her 1911 book Moving the Mountain, when explorer John Robertson returns to America after being lost in Tibet for thirty years and asks his sister, “Now tell me the worst – are the men all doing the housework?” She reassures him they are not. He thinks a bit, and then still wondering where the catch is, inquires nervously, “they still wear trousers don’t they?”

In the fictional America of 1940 he is, however, disappointed to find that there are no more dutiful and desperate housewives. Robertson, who is treated like an extinct species, finds it hard to adjust and notes wistfully how a house without a housewife seems “altogether empty’”. Gilman was looking ahead to a time when the mountain had been moved, when “the women woke up”, have become economically independent, and work like men, according to their abilities and talents. Interestingly, Gilman does not insist – as some feminists do – on equality in everything in the future. In The Home: Its Work and Influence she reassures readers that everyone will work according to their human talents. Men do not have to change nappies (unless they really, really want to), but should do the heavy, “violent plain” work as that is what they actually are best at. So, while the men are busy digging and hammering, women she predicts, will prefer the administrative and constructive jobs. In a forerunner of the work-life balance and domestic services that are widely on offer today, the women set up the superbly named Home Service Company. This is a successful business that among other things manages the new food industries, centralised cooking and home-delivery services. As well as the housework and cooking being taken care of, the women are further liberated by the fact that there are childcare services available everywhere.

As mentioned above, Gilman herself had a complete nervous breakdown when she was first married and faced with a small screaming baby and a dreary domestic routine. So, although these predictions were in many ways a personal projection, they still represented the dream of a better future for many women of her generation. At the time, ideas such as the kitchen-less house were shocking for the social shifts they represented.

In her preface to Moving the Mountain Gilman said, “One of the most distinctive features of the human mind is to forecast better things”. Better things for her meant not only better novels, but also a “new social consciousness”. She christened the book a »baby utopia« as it involves “no other change than a change of mind, the mere awakening of people, especially the women, to existing possibilities. It indicates what people might do . . . in thirty years.” Even by the most utopian of utopian standards, thirty years represents pretty optimistic thinking for deep social shifts.

Herland published four years later, was an altogether bigger and bolder vision of the future and hence a much more frightening proposal. Set in a remote mountain area, it tells the story of three male explorers who stumble across an all-female society. Herland, they discover, has emerged triumphant from the ashes of a civilisation destroyed, rather predictably, by reckless male behaviour. The women they encounter are of enviable Amazonian proportions – athletic, strong and with cropped hair – and sexless, though one of the men reports, “when I see them knit, I can almost call them feminine”. But as the hapless three soon discover, far from fulfilling every clichéd male fantasy, the place has serious disadvantages. Although the men are treated kindly, they are kept locked up or under guard for much of the time – not so much to protect the women from the »gentlemen«, explain the Herlanders, but vice versa. Not only are the men bewildered by the absence of either recreational or procreational sex. Compensation is not to be found in the usual realm. There is no smoking or drinking, and even a good juicy steak is out of the question as the Herlanders are all vegetarian. Despite this being a sexless race, the women have survived and multiplied thanks to the discovery and development of procreation by parthenogenesis. Far from devalued, motherhood in Herland is seen as the highest social service. But in an all-too transparent reflection of her own desires and experiences, babies in Gilman’s utopia never cry, and are not brought up by home-bound depressed mothers, but by all mothers collectively.

Von Co-rona Living zu Co-living

Es waren einmal drei Groß­mütter. Doreen, Dotty und Carol (Sie könnten es nicht erfinden, auch wenn Sie es versuchen würden). Sie alle lebten glücklich in ihren eigenen Wohnungen, bis ihnen eines Tages gesagt wurde, sie müssten sich selbst isolieren. Alle waren in ihren 70ern und seit mindestens 40 Jahren befreundet. Und so beschlossen sie, dass, dass es viel mehr Spaß machen würde, sich zusammen zu isolieren. Zuerst einigten sie sich darauf, eine Woche alleine zu warten um heraus­zufinden, ob sie den Virus nicht hatten. Dann zogen sie zusammen. Es war eine Form der hochsozialen Ko-Isolation, um die Einsamkeit zu bekämpfen.

Sie mussten sich auch darauf einigen, in welches Haus sie einziehen wollten – das Haus, das die privatesten Räume, aber auch Platz zum gemeinsamen Trainieren und Essen bot – und stellten sicher, dass sie Netflix und ziemlich viel Wein hatten.

Was werden diese Damen also tun, nachdem sich das Virus aufgelöst hat? Werden sie ihre Ressourcen bündeln und sich in einem größeren Haus niederlassen? Werden sie jemals wieder glücklich zusammenleben? Das Seltsame ist, dass der Individualismus-Trend, wenn man ihn mit den Augen und der Erfahrung sozialer Isolation betrachtet, wie ein vergeblicher Genuss erscheint. David Brooks schreibt in der New York Times, dass das große Paradox der Coronakrise darin besteht, dass wir getrennt werden mussten, um uns zusammen zu fühlen. Es ist so, erinnert er uns, als wenn wir Fasten, und dabei das Essen wieder schön wird. Plötzlich hat jeder menschliche Verbindungen im Kopf. Aber wird es dauern? Werden wir uns „nach der Krise“ umso mehr vereinzeln?

Wenn wir optimistisch sein wollen, könnten wir sagen, dass soziale Solidarität hartnäckig ist. Dass wir gelernt haben, wie sehr wir ein aktives Engagement für das Gemeinwohl brauchen, das über die Folgen des Virus hinausgeht – nicht nur privat, sondern auch in unserem öffentlichen Leben. Wir werden vielleicht feststellen, dass das Co-living-Zusammenleben mehr zu bieten hat als Skaleneffekte, mehr zu bieten als gemeinsame Terrassen und Küchen, auf denen Sie leichter mit Ihrem Nachbarn flirten können. Wir werden das Potenzial dieses Zusammenlebens durch die Linse derer sehen, die viele Wochen oder sogar Monate allein verbracht haben. Wir werden einen Eindruck davon bekommen, dass die Vorteile einer gemeinsam gekochten und geteilten Mahlzeit lange nach dem Abwasch bestehen bleibt.

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Post-Corona Hygge

Hygge, der neueste Sofastil, die Farbe des Jahres, neue Kissen­kollektionen. Es gibt etwas an diesen Heimtrends, das sich plötzlich fast dekadent und unanständig anfühlt. Man könnte sagen, sie waren immer nur „Lösungen der ersten Welt für Probleme der ersten Welt“. Doch wie wir unsere Häuser formen, feiern, dekorieren und einrichten, ist plötzlich paradoxerweise wichtiger denn je. Wir brauchen ein Zuhause, um uns daran zu erinnern, wer wir sind und was wichtig ist.

Versuchen wir also uns in einem Jahr in unseren Häusern vorzustellen. Klingt komisch, aber wenn wir verstehen wollen, wie diese Krise unser Leben verändert, können wir die RE-gnose verwenden. Das heißt, wir schauen nicht von jetzt in die Zukunft (wie bei der PROgnose), sondern von der Zukunft zurück ins heute. Das ist nicht so verrückt, wie es sich anhört. Stellen Sie sich vor, wir haben durch die Krise gefunden – wie wirken die Dinge, die uns umgeben, auf uns? Das abgenutzte Marie Kondo-Buch steht wieder im Regal, und wir freuen uns, dass unsere Wohnungen aufgeräumter, organisierter und komfortabler, praktischer und funktionaler sind. Wir haben sogar gelernt, Dinge selbst zu reparieren, Regale aufzustellen, die Wände zu streichen, und es gibt einen Haufen Dinge, die bereit stehen, in den Second-Hand-Wohltätigkeitsladen zu wandern.

Der Küchentisch mit seinen Flecken und Kratzern sieht nicht mehr schmutzig und gebraucht aus, sondern erzählt die Geschichte eines intensiven Lebens mit Familie und Freunden. Der Keller sieht nicht mehr wie das Set einer Krimiserie aus, und wir haben den Koffer der Großmutter vom Dachboden umfunktioniert. Wir können uns immer noch an das warme Gefühl erinnern, als wir anfingen, die Kontrolle über unseren privaten Raum zu übernehmen. Wir hatten das Gefühl, ein wenig Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen, während im Außen alles durcheinanderkam.

Wir werden uns in dieser Zukunft vielleicht fragen, warum wir einmal nach Hause gekommen sind und alles für selbstverständlich gehalten haben, warum wir unser Zuhause so vernachlässigt haben, warum wir die subtilen Linien der Beine des Esstisches, die weiche Krümmung der Armlehnen des Sofas nie wirklich bemerkt oder geschätzt haben. Wir werden uns fragen, warum wir unsere Häuser wie eine dieser Tanten behandelt haben, die wir „eigentlich“ immer mal treffen wollten, aber nie angerufen haben.

Versuchen wir also ein wenig Backcasting. Das ist eine Form der Re-gnose, bei der Sie, wenn Sie ein bestimmtes Ziel erreichen möchten, die Maßnahmen betrachten, die ergriffen werden müssen, um dorthin zu gelangen. Rufen wir sozusagen die Tante an. Definieren wir eine wünschenswerte Zukunft – und arbeiten wir rückwärts, um herauszufinden, wie wir dorthin gelangen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Wenn wir uns in Zukunft in unseren Häusern sehen, erlauben wir uns, unsere Habseligkeiten kritischer zu betrachten – von wem sie gemacht wurden, woher sie kamen und was sie für uns bedeuten. Bringen sie uns Freude (ja oder nein?) Und Trost? Spiegeln die geschätzten 10.000 Dinge, die jeder von uns besitzt, unsere Überzeugungen und tatsächlichen Bedürfnisse wieder? Stellen wir uns „Heldenmaterialien“ wie Cradle-to-Cradle oder sogar veganes Design vor? Investieren wir nicht nur aus Gründen des Designs, sondern auch für eine langfristige Beziehung zum Objekt und den Idealen und Ideen dahinter in Design? Wir sehen, es geht nicht nur darum, was in Ihrem Haus passiert, sondern auch darum, wie Sie wirklich fühlen und denken.

Sätze wie „Zuhause ist der Ort, an dem unsere Seele das Gefühl hat, einen geeigneten physischen Behälter gefunden zu haben“ können nicht mehr nur als coole Aussagen abgetan werden, sondern treffen den Kern unserer neuen Realität. Gleiches gilt für den viel verspotteten und diskutierten Achtsamkeitstrend. Das Mantra „auf das achten, worauf Sie achten“ erhält plötzlich eine neue Bedeutung, Wichtigkeit und Dringlichkeit. Solche kulturellen Veränderungen und Konzepte werden nicht mehr nur als kurzfristige Lösungen angesehen und als Spielzeug für die Privilegierten abgetan. Es geht darum, sich einer neuen Realität zu stellen, wo zu Hause ist, wie wir es gestalten und mit wem wir wirklich leben wollen.

Es wurde gesagt, dass das größte Heimweh die Menschen haben, die kein Zuhause besitzen. Wir waren eine Welt der Nomaden geworden, die flexible, mobile Lebensstile förderten und feierten. In der Zukunft geht es darum, unser Heimatgefühl zurückzugewinnen. Um das Verstehen, dass es im Zuhause „um das Vertraute, die Schwerkraft, das Zurückfallen ins Selbst nach der Zerstreuung und Überdehnung in der Welt“ geht (Andrew Bush, Bonnettstown, 1989).
Oder einfach gesagt, Hygge ist tot, es lebe Hygge!


www.strathern.eu

Die Coronagleichung

Ich möchte über ein unangenehmes Thema sprechen: die Generationsgleichung, die durch Corona entstanden ist. Ganz plakativ gesagt: die “Jungen” verhalten sich (großteils) vorbildlich zum Schutze der “Alten”. Die Solidarität von Millennials & Gen Z gegenüber unseren Risikogruppen (Babyboomer+) ist so hoch wie noch nie. Die ganze WELT steht still, um EUCH zu schützen. Denn WIR mögen euch ja (meistens), ihr seid schließlich unsere Eltern, Omas, Opas, Onkel, Tanten, Nachbarn. 

Nur ist die Gleichung jetzt ungelöst. 

Noch bevor es Covid-19 gab, haben die Under 30s, die laut Babyboomer noch gar nicht wissen können, wie die Welt eigentlich funktioniert, eine wesentlich fatalere Krise erkannt: die ganze Welt steuert wie gelähmt darauf zu, auf die Klimakrise. Wir haben protestiert – sogar die Introvertierten gingen auf die Straßen. Was wollten wir? Dass man den EXPERTEN zuhört. Noch nichtmal uns! Wir wollten nur Aufmerksamkeit auf das Problem lenken, damit ihr, die doch so erfahrenen Generationen, unsere Zukunft rettet. Passiert ist, sind wir uns ehrlich, sehr wenig. Das würde ja die Wirtschaft nicht verkraften. Verzicht macht auch keinen Spaß, Verhaltensänderung noch weniger. Die Änderungen müssen langsam und graduell geschehen, wir wollen unser jetziges System nicht kippen, es nicht überlasten.

 Jetzt haben wir die Welt innerhalb von 2 Wochen komplett umgekrempelt. Für euch haben wir die Welt zum völligen Stillstand gebracht. 

Für viele wird es nun dreist wirken, sogar fahrlässig, über die Klimadebatte zu sprechen – wir hängen doch mitten in einer “anderen” Krise. Aber fühlt mal um euch. Man spürt eine Energie, eine Solidarität, eine Lebendigkeit. Diese müssen wir halten und nutzen, um uns für die nächste Krise zu wappnen – denn die kommt bestimmt. Momentan sind Virologen, Epidemiologen, und Ärzte unsere Heldinnen. Ihnen hört man zu, sie sind ja die Experten. Wenn jetzt ein Politiker behaupten würde, die Experten sehen das zu streng, das ist alles nicht so dramatisch, wir lösen das schon mit Technologie, soziale Isolation ist nur für linkslinke Verzichts-Fanatiker, würde er sich damit sein eigenes Grab schaufeln. Überträgt man diesen Gedanken auf die vorherige Klimadebatte, schaut es mit der Doppelmoral nicht gut aus. 

Die Gleichung wird gelöst werden, one way or another. Tun wir es doch bitte in einer konstruktiven, produktiven und solidarischen Art. 

Stellen wir uns doch vor, wir sind im Jahr 2021. Jetzt hören wir Klimaforschern, Meteorologen, Geologen und Energieplanern so zu, wie noch vor einem Jahr Virologen, Epidemiologen und Ärzten. Wir streiten uns nicht mehr darüber, welche Generation am meisten in Fragen des Klimas weiß, anstatt dessen hören wir zu. Und dann handeln wir – gemeinsam. Als solidarische, generationsunabhängige Gesellschaft – wie damals, in der Coronakrise.  

Generation Corona: Die Beschleunigung der Entschleunigung

Es war eigentlich schon längst überfällig, dass wir die Welt für ein paar Wochen abschalten. Wir sprachen seit Jahren von der immer beschleunigteren, komplexer und überfordernder werdenden Welt.

Kommunikation zwischen Menschen war schwer, auf den sozialen Medien türmten sich Selbstinszenierungen vom perfekten Leben, Fake News und Filterblasen. Der politische Diskurs lief eigentlich gar nicht mehr, echte Dialoge waren out, wirklich diskutiert wurde da schon lange nicht mehr. Nicht mal eine produktive Debatte zu einer der größten Bedrohungen der Welt, dem Klimawandel konnten wir objektiv und sinnvoll bewerkstelligen.

Trends wie Digital Detox, Minimalismus, Achtsamkeit, Arbeitsflexibilisierung fingen vor der Krise zwar an, langsam an Momentum zu gewinnen, aber die Kultur des Überkonsums und des Nächstenhasses war die dominierende. Die Coronakrise ist der Beschleuniger dieser Entschleunigungstrends, den wir so dringend brauchten, auch wenn es nicht ganz freiwillig ist. Die gemeinsame soziale Isolation hilft uns ein paar unserer Verhaltensmuster der Überdigitalisierung zu überdenken – vor allem wir aus den “jüngeren” Generationen.

Wir werden wieder lernen, wie man echte zwischenmenschliche Beziehungen zu seinen Nächsten durch digitale Medien pflegt – Reminder – das war der eigentliche Sinn der ganzen Konnektivitätstechnologie. Wer jetzt noch versucht auf Instagram & Co. das perfekte Leben zu inszenieren, ist wirklich erbärmlich und das wissen wir alle. Telekommunikation muss jetzt als echter sozialer Ersatz funktionieren, auch daraus können wir lernen: früher haben wir die Oma doch nur angerufen um sie dann nicht treffen zu müssen oder? Jetzt wo wir unsere geliebten (aber vielleicht nicht oft Besuchten) nicht mehr anders erreichen können, wird sich durch die Krise ein anderer Umgang ergeben. 

Nach mehreren Wochen des Zwangs-Onlineseins in Quarantäne werden wir auch wiedererkennen, wie schön es ist, sein Handy nicht als einzige Verbindung mit der Welt zu haben. Wir werden es REALDIGITAL nutzen, die Krise wird ausloten, wofür es wirklich Sinn macht. Jetzt wäre es doch so schön, sich über WhatsApp zu koordinieren um sich dann im Park, einem Café oder einer Bar zu treffen – und das Gerät dann in der Jackentasche zu lassen. Wer nach der Coronaisolation beim Essen im Restaurant noch immer an seinem Handy hängt, dem empfehle ich sich doch bitte etwas länger in Quarantäne zu begeben.

Die Welt nach Corona

Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise „vorbei“ ist.

Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird” und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.

Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen sie die RE-Gnose. Im Gegensatz zur PRO-Gnose schauen wir mit dieser Technik nicht »in die Zukunft«. Sondern von der Zukunft aus ZURÜCK ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal:

Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020

Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafé in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen.

Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?
Oder sogar besser?
Worüber werden wir uns rückblickend wundern?

Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.

Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.

Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.

Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.

Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch die »messages« selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.

Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.

Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert.
Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?

Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen…

Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.

Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien ihren Tipping Point.

Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.

Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?

Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.

Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie »Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.

Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.

Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.

Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?

RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung

Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am Einfachsten darzustellen.

Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein »Future Mind« – Zukunfts-Bewusstheit.

Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren »Events«, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.

Das fühlt sich schon ganz anders an als eine Prognose, die in ihrem apodiktischen Charakter immer etwas Totes, Steriles hat. Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.

Wir alle kennen das Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Wenn wir für eine Behandlung zum Zahnarzt gehen, sind wir schon lange vorher besorgt. Wir verlieren auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle und das schmerzt, bevor es überhaupt wehtut. In der Antizipation dieses Gefühls steigern wir uns in Ängste hinein, die uns völlig überwältigen können. Wenn wir dann allerdings die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang.

Coping heißt: bewältigen. Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunfts-Droge. Während uns Adrenalin zu Flucht oder Kampf anleitet (was auf dem Zahnarztstuhl nicht so richtig produktiv ist, ebenso wenig wie beim Kampf gegen Corona), öffnet Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende, neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.

Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt »endet«, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.

Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.

So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.

Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.

Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwort­lich­keiten bekam in dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch »futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen wieder Stimme und Gewicht.

Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden.

Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger

Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese.

Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch »Globalisierung« genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.

Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.

Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.

„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.”

Slavo Zizek im Höhepunkt der Coronakrise Mitte März

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.

Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.

Aber sie kann sich neu erfinden.
System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!
So geht Zukunft.

Hinweis: Dieser Text ist frei abdruckbar mit dem Hinweis: www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de.