Michael Lehofer ist Psychiater und Psychologe, er hat in seiner Eigenschaft als medizinischer Leiter der Grazer Krankenhäuser geholfen, die Infrastruktur im Kampf gegen Corona aufzubauen. Er ist Autor mehrerer Bücher, z.B. „Alter ist eine Illusion“ und „Mit Mir sein“. Im Zukunftsinstitut ist er ein wichtiges Mitglied unseres Future-Think Tanks. Hier schreibt er über die psychologischen Wirkungen und Bedingungen der Krise.
Wir haben uns das alles nicht vorstellen können. Niemand hätte einen Cent darauf gewettet. Nun ist das eingetreten, was eine Krise ausmacht. „Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, wie es weitergehen kann.“ Das ist jener Satz, der signalisiert, dass es kritisch ist. Nun hat jeder Mensch im Laufe seines Lebens dann und wann Krisen. Der eine hat eine Gesundheitskrise, der andere eine ökonomische Krise, oder vielleicht eine Beziehungskrise. Allen Situationen ist gemeinsam, dass man in der Krise etwas verloren hat, ohne das man sich das eigene Leben nicht vorstellen kann. Das besondere an der Corona-Krise ist, dass wir alle plötzlich in der Krise sind. Nicht der eine Unglückliche von uns, sondern jeder Einzelne und alle gemeinsam sind betroffen. Eine gefährliche Krankheit bedroht uns, eine Wirtschaftskrise ist unausweichlich. So sagen es die Experten. Was wird die Zukunft bringen? Die Zukunftsangst ist der Zustand, in dem wir an unsere eigene Illusion von der Zukunft nicht mehr zu glauben vermögen. Die Zukunftsangst ist nichts anderes als eine Glaubenskrise. Die Mehrzahl von uns mag vielleicht mittlerweile auf den Glauben an Gott verzichten können: Aber an unsere Zukunft müssen wir glauben können, sonst sind wir irritiert. Wenn ein Mensch etwa einmal Insolvenz anmelden muss, dann ist es für ihn nicht selten am Belastendsten, dass er so lange Zeit nicht weiß, wie es ausgehen wird. Das in der Schwebe sein halten wir schlecht aus. Wir möchten orientiert sein. Wir möchten uns auskennen. Besser: Wir möchten daran glauben können, dass wir uns auskennen.
In Krisen zeigen die Menschen ihr wahres Gesicht. Das mag den meisten von uns bereits aufgefallen sein: Die, von denen wir wussten, dass sie nur auf sich schauen, werden nun darin deutlicher, und jene, die kollegial sind, bewähren sich jetzt in dieser Eigenschaft. Eine Krise ist immer auch ein Klärungsprozess von Beziehungen. Warum ist das so? Die Angst, die Bedrohung erzeugt im Menschen eine Verstärkung jenes Mechanismus, mit dem er persönlich versucht im Leben zu bestehen. Wenn er es gewohnt ist, durch Gier und Eigensinn seine Lebensgrundlagen zu sichern, wird er es in einer kritischen Phase umso mehr tun. Wenn er aber auf Gemeinschaft, auf das Wechselspiel von Geben und Nehmen setzt, dann wird er in einer Krise deutlicher als ein solcher sichtbar werden. Eine Krise ist ein Zustand, in dem die Masken fallen. Es hat keinen Sinn sich übereinander zu empören, denn es ist jeder so wie er ist. Das gilt auch für die Familien, die nun zusammengespannt sind. Die Spannungen, wie auch die Harmonie sind genau das, was ohnehin zu erwarten war. Eine Krise ist ein Lebenszustand ohne Notausgang, vorübergehend zumindest.
Sicherlich trifft es nicht jeden gleichermaßen. Manche kommen mit den eigenen Existenzängsten besser zurecht, manche gar nicht gut. Das was wir bisher vom Leben gedacht haben, uns zusammenkonstruiert haben, ist nicht mehr zu halten, vielleicht, wahrscheinlich, sicher! Das Leben, die Umstände haben uns verblüffend einfach dekonstruiert. Worauf können wir uns stützen? Ich begegnete Menschen, die einen kleinen verschuldeten Betrieb haben, und vermeintlich oder real vor den Trümmern der eigenen Existenz stehen. Einige sind total verzagt, andere wieder erstaunlich gelassen und optimistisch. Sie sagen mir: „Es wird schon irgendwie weitergehen, darauf vertraue ich!“ Sie wissen zwar noch nicht wie, aber vielleicht erinnern sie sich an eine andere Situation im Leben, in der sie auch nicht weitergewusst haben. Irgendwie sind sie dann doch gut gelandet, wider Erwarten. Eine solche Erfahrung ist Goldes wert. Und dann denke ich an Bekannte, die Schmerz empfinden, weil sie den geplanten Urlaub in ihrem Ferienhaus an der Adria nicht antreten können, der Reisebeschränkungen wegen. Das ist bitter für sie. Das Selbstmitleid vermiest ihnen die Frühlingstage im eigenen aufblühenden Garten. Es gibt in einer Krise nichts, was es nicht gibt.
Ja, eine Krise ist immer ein großes Reinemachen im Leben, gewöhnlich verletzend rabiat. Vieles von dem, was uns lieb geworden ist, ist in Gefahr und geht schließlich verloren. Aber auch vieles woran wir hängen und was wir aber in Wahrheit nie gebraucht haben, und was wir unter normalen Umständen nie und nimmer aufgegeben hätten, wird uns genommen. Damit sind wir quasi im Vorübergehen auch von vielem „Müll“ befreit. Eine Krise ist immer mit einem Gefühl von Angst behaftet, denn wir sind in Gefahr. Wir sind überdies traurig, weil Trauer das Gefühl ist, das uns über den Verlust informiert.
Zusätzlich erleben viele von uns insgeheim in der Krise eine fast beschämende Erleichterung, eine Befreiung von vielem, nicht zuletzt von einem Teil von sich selbst. Es ist wie ein verbotenes Glück im Unglück. Dieser Teil, den wir abwerfen dürfen, ist die Dekadenz. Die Dekadenz ist ein Zustand, der durch die Überfeinerung von Lebensgewohnheiten und Ansprüchen definiert ist. Kurz gesagt: Wir haben uns durch die Selbstverwöhnung geschwächt und wissen nicht mehr, wofür wir stehen und was wir wirklich brauchen. Wir alle versuchen ein schönes Leben zu führen. Deshalb optimieren wir den Genuss und zerstören ihn damit. Unsere Wünsche von gestern werden zum unverzichtbaren Muss im Heute. Ursprünglich hatten wir die Idee, was alles schön sein könnte. Wenn dann alle Ideen und mehr umgesetzt worden sind, dann ist das Schöne erst recht eine Idee, die sich nicht mit Leben erfüllt. Das kann man einfach selbst erfahren, wenn man genusssüchtigen Menschen zuhört, die über ihre vermeintlich tollen Erlebnisse berichten. Es sind Berichte, die sich nicht lebendig anfühlen, als ob sie nur darüber gelesen hätten. Das Blutleere in diesen Erzählungen erklärt sich durch die Vorstellung vom Schönen, die sich vor das unmittelbare Erleben gestellt hat. Was wir nicht erleben können, macht uns nicht satt. So erklärt sich die Unersättlichkeit des Dekadenten.
Die meisten von uns gehen mit einem viel zu großen Rucksack durch das Leben. Die Krise zwingt uns den Rucksack zu leeren. Manches tut uns leid, was wir hinter uns lassen müssen, anderes ist herrlich loszulassen. Und was auch herrlich ist: Die unheimliche Erleichterung zu spüren, und mit der dann durch das Leben gehen. Gestehen wir uns das ein, gestehen wir uns diese Erleichterung zu.